Weil gerade November ist und wir derzeit viel über Demokratie diskutieren, begleiten Sie mich kurz auf den Franzensring (heute Karl Renner-Ring) vor dem Parlament.
Vor gut hundert Jahren versammelten sich dort Hunderttausende, um der Ausrufung der Republik „Deutsch-Österreich“ beizuwohnen. Der erste Weltkrieg war beendet, Kaiser Karl hatte auf seinen Anteil an den Staatsgeschäften verzichtet, eine provisorische Nationalversammlung war gebildet worden und hatte für den November 1918 arbeitsfrei gegeben: In einer großen Feier sollte das Volk an der Schaffung des neuen Staates teilnehmen. Aus heutiger Sicht war diese Versammlung die Geburtsstunde der Republik und Ort der „österreichischen Revolution“, verstanden als gesellschaftliche Umwälzung von unten nach oben. Dabei war damals noch gar nicht klar, wie der neue Staat und seine Verfassung aussehen würden.
Es waren vor allem Arbeiterinnen und Arbeiter, die an diesem nasskalten Herbsttag auf die Ringstraße strömten. Daher verwundert es nicht, dass das erst 1904 eingemeindete Floridsdorf an dieser Gründungsfeier maßgeblichen Anteil hatte. Gerade im damaligen „Arbeiterbezirk“ war man überzeugt, dass sich nun auf politisch-demokratischem Weg die Zustände bessern würden: Es ging um die Reduzierung der Arbeitszeit und eine gerechte Bezahlung, ein Ende der prekären Wohn- und Ernährungssituation und um das Wahlrecht für Frauen.
Ein ikonisches Foto von Richard Hauffe zeigt die Menschenmassen vor dem Parlament, die damaligen Zeitungsberichte verdeutlichen den Beitrag von Floridsdorfern und Floridsdorferinnen. Als sich am Nachmittag die Menge vor dem Parlament versammelte, strömte sie im Überschwang der Gefühle auch die Parlamentsrampe hinauf, wo eine Gruppe von Arbeitern aus Floridsdorf ein riesiges Transparent mit der Aufschrift „Hoch die Sozialistische Republik“ entrollte.
Von Matthias Marschik
Dass sie das Wort „soziallistische“ mit Doppel-L schrieben, tat dem Enthusiasmus keinen Abbruch. Um die Wartezeit bis zur erhofften Verkündigung der republikanischen Verfassung zu verkürzen, stimmten Floridsdorfer Arbeitersänger ein trotziges Freiheitslied an, das begeistert aufgegriffen wurde. Um 16 Uhr schließlich traten die Präsidenten der Provisorischen Nationalversammlung, Franz Dinghofer und Karl Seitz, vor das Gebäude und lasen die ersten Paragraphen der neuen Verfassung vor: Ab sofort sei man eine demokratische Republik, das Volk habe nun die Macht.
Auch Seitz war ein halber Floridsdorfer, saß er doch ab 1901 für diesen Wahlkreis im Reichsrat. Doch auch innerhalb der ,Roten Garden‘, die analog zur russischen Revolution eine Räterepublik errichten wollten, und daher das Parlament stürmten, sah ,die Reichspost‘ vor allem eine ,Gruppe von Kommunisten aus Floridsdorf‘ am Werk.
Das ist alles lange her. Aber wenn heute nach starken Männern gerufen, eine „illiberale“ Demokratie gefordert wird, sind wir in Floridsdorf mit unserer spezifischen Tradition geradezu verpflichtet, demokratische Werte zu verteidigen. Gerade hier wurden sie vor über 100 Jahren erkämpft.