Das tschechische Floridsdorf

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Das Tschechische Haus in der Brünner Straße 55. Im März 1938 wurde das Namensschild von Nazis übermalt, die mit den Juden auch gleich die Tschechen loswerden wollten. Foto: Sammlung Karl Brousek.
Das Tschechische Haus in der Brünner Straße 55. Im März 1938 wurde das Namensschild von Nazis übermalt, die mit den Juden auch gleich die Tschechen loswerden wollten. Foto: Sammlung Karl Brousek.

Mein Großvater väterlicherseits stammte aus Iglau/Jihlava an der Grenze zwischen Böhmen und Mähren. Nach 1918 kam er nach Wien und eröffnete in der Äugelgasse eine Drogerie. Später betrieb er eine Branntweinschänke in der O’Brien-Gasse, ehe ihn die Wirtschaftskrise der 1930er Jahre in die Arme der Nationalsozialisten trieb, die ihm zunächst einen Job beim Bau der Reichsbrücke, dann in der Organisation Todt, dem Baukonzern der Nazis, verschafften. In der Zwischenkriegszeit war er einer von etwa 3.-4.000 Tschechen und Tschechinnen in Floridsdorf.

Der extreme Industrialisierungsschub, der ab der Mitte des 19. Jahrhunderts aus etlichen Marchfelddörfern das heutige Floridsdorf entstehen ließ, hat viele tausende Männer und Frauen als Arbeiter, Handwerker, Händler oder Bedienstete teils freiwillig, teils gezwungen, in die Gegend gelockt. Doch während Geschichte und Schicksal der Juden und Jüdinnen sowie der Lovara-Roma im Bezirk zumindest ansatzweise nachgezeichnet wurden, fehlen zur Zuwanderung aus Böhmen und Mähren selbst Basisdaten.

Von Matthias Marschik

Fakt ist, dass der Sog der Residenzstadt Böhmen und Mährer aller Schichten nach Wien zog: Viele böhmische Adelige und Unternehmer, etwa die Schwarzenbergs oder Harrachs, errichteten Palais an der Ringstraße, andere, wie die Mautners, ließen sich in Floridsdorf nieder. Auch die bürgerliche Zuwanderung endete mitunter hier, etwa der spätere Schuldirektor Karl Aschenbrenner. Vor allem die Hilfskräfte, die mit der Bahn oder zu Fuß auf der Arbeitssuche nach Wien kamen, landeten in Floridsdorf, der ersten Station in der Metropole, wenn man auf der Prager oder Brünner Straße, mit der Nord- oder Nordwestbahn ankam. Das expandierende Floridsdorf brauchte alle, vom mährischen Erntehelfer bis zum böhmischen Fabriksarbeiter, von der böhmischen Köchin bis zur mährischen Amme. Man denke an die später prominenten Bezirksbürger Anton Schlinger oder Franz Jonas.

Tschechische Theatergruppe in Tracht in den 1920er Jahren. Foto: Sammlung Karl Brousek.
Tschechische Theatergruppe in Tracht in den 1920er Jahren. Foto: Sammlung Karl Brousek.

Auch wenn man ihre Arbeitskraft dringend benötigte: Beliebt waren die Zuwanderer aus Böhmen und Mähren keineswegs. Es erinnert sehr an die heutige Situation: Sie wurden bestenfalls geduldet, wenn sie sich unauffällig verhielten. Wenn sie aber als bewusste Tschechen auftraten, wurden sie, nicht anders als Juden oder Roma, ausgegrenzt, verachtet und verfolgt. Die damalige ,Floridsdorfer Zeitung‘ war voll von Anklagen gegen die „tschechische Bagage“.

Als Abwehr wurde 1920 in der Brünner Straße 55 ein Československý dům (ab 1939 Tschechisches Haus) gegründet. Hier wurden Neuankömmlinge beraten und Bedürftige unterstützt. Ein Gasthaus mit großem Garten war der gesellige Treffpunkt. Ein Veranstaltungsraum diente als Tanzboden, als Musik-, Theater- und Turnsaal. Für große Feiern und Sportfeste traf sich das tschechische Wien allerdings am České-Srdce-Platz in Favoriten (heute: Generali Arena). Besonders prekär wurde die Situation der tschechischen Minderheit mit dem „Anschluss“ im März 1938. Doch bis in die 1960er Jahre wurden Tschechen und Tschechinnen in Wien ausgegrenzt, ehe sich der „echte Wiener“ mit der ersten Gastarbeiterwelle neue „Opfer“ fand.

Univ.-Doz. Dr. Matthias MarscUniv.-Doz. Dr. Matthias Marschik ist Historiker und Kulturwissenschafter. Er lehrt an verschiedenen Universitäten und ist Autor zahlreicher Bücher und Aufsätze zu kulturgeschichtlichen Themen. Zuletzt erschienen u.a. Bücher über den Bisamberg, die Wiener Hausberge und das bürgerliche Floridsdorf. Matthias Marschik ist in Floridsdorf geboren, er lebt und arbeitet auch heute noch im Bezirk. Er schreibt regelmäßig in der Floridsdorfer Zeitung. Foto: Privat.hik ist Historiker und Kulturwissenschafter. Er lehrt an verschiedenen Universitäten und ist Autor zahlreicher Bücher und Aufsätze zu kulturgeschichtlichen Themen. Zuletzt erschienen u.a. Bücher über den Bisamberg, die Wiener Hausberge und das bürgerliche Floridsdorf. Matthias Marschik ist in Floridsdorf geboren, er lebt und arbeitet auch heute noch im Bezirk. Er wird ab sofort regelmäßig in der Floridsdorfer Zeitung schreiben. Foto: Privat.
Univ.-Doz. Dr. Matthias Marschik ist Historiker und Kulturwissenschafter. Er lehrt an verschiedenen Universitäten und ist Autor zahlreicher Bücher und Aufsätze zu kulturgeschichtlichen Themen. Zuletzt erschienen u.a. Bücher über den Bisamberg, die Wiener Hausberge und das bürgerliche Floridsdorf. Matthias Marschik ist in Floridsdorf geboren, er lebt und arbeitet auch heute noch im Bezirk. Er schreibt regelmäßig in der Floridsdorfer Zeitung. Foto: Privat.